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Wurfparabel
Erzählung

Rezensionen

»Kurier«, Wien

Georg Bydlinskis Held Richard wird von einem Stein in Versuchung geführt. Zuerst wirft er diesen Stein gegen die Glastür einer Telefonzelle, auf der antisemitische Parolen stehen, später trägt er den glatten Kiesel in der Tasche, als vor der Albertina das Hrdlicka-Mahnmal enthüllt wird, und ehe er sich dessen bewusst wird, fliegt der Stein in Richtung des (ehemaligen) Bundespräsidenten, der sein Verhalten während der NS-Zeit stets als Pflichterfüllung herunterzuspielen suchte. Tags darauf, da ist Richard bereits aufs Land verzogen, hört er im Radio, der Bundespräsident sei zurückgetreten. – Wir alle wissen, dass weder ein Stein geworfen, noch ein Rücktritt ausgelöst worden ist. Der Bundespräsident, den Bydlinski zum Festredner macht, war bei der Denkmalenthüllung nicht einmal dabei. Dem Autor geht es darum, die Wirklichkeit auf die Spitze zu treiben, seine Wurf-Erzählung ist eine Parabel, ein Gleichnis. Wichtiger ist, was mit dem Helden, einem Halbtagsaussteiger, in weiterer Folge geschieht: sein Rückzug auf das Land, sein Aufgehen in der Natur, die Entdeckung seiner selbst. Man kann die präzisen Beobachtungen, die gefühlvollen Veränderungen, die bewussten Handreichungen nachvollziehen, und wenn der Stadtmensch nach einigen Wochen nach Wien zurückkehrt, ist er ein anderer. – Sehr verdeckt gibt es in der Wurfparabel noch eine Liebesgeschichte, auch sie von einer Zartheit, die nichts zerbrechen will. Sie wird sanft erzählt, ohne Zudringlichkeit, in Bruchstücken, und erweist sich doch als wichtig für einen jungen Menschen, in dem öffentliches Geschehen mit der Privatheit seiner Existenz konkurriert.

Die Erzählung ist reicher, als die hundert Seiten vermuten lassen. So subjektiv Richard die Welt wahrnimmt, so allgemeingültig sind doch seine Beobachtungen, ob es sich nun um das Mahnmal handelt oder um ein Treffen mit einstigen Klassenkameraden. Georg Bydlinski hat sich mit dieser Parabel ziemlich weit nach vorne geschrieben.

Anna Mitgutsch

Ich habe wenige Texte gelesen, in denen ein so starkes Versprechen von Frieden entstanden ist – ein  Gegenentwurf zu unserer Gesellschaft, zum Zeitgeist.

Leseprobe

Der Stein lag da, mitten auf dem Gehweg der engen Innenstadtstraße, ein taubeneigroßer, gesprenkelter Kiesel. Richard bückte sich und hob ihn auf. Er spürte seine Rundung, seine Unebenheiten in der Hand. Plötzlich war ihm, als habe der Stein eine Seele, ein Inneres, das Befehle aussandte – sanfte Ströme, die an die Haut von Richards Handteller gelangten, dann in ihn fuhren wie ein Blitz.

Die Glastür der Telefonzelle mit der Sprayschrift JUDA VERRECKE! ging splitternd zu Bruch. Danach erst erkannte Richard, dass er den Stein geworfen hatte.

Dastehen, zuerst, und die Zeit dehnte sich, verging nicht, dastehen, nicht wegkönnen, aber niemand kam, wie in der Szenenanweisung eines Filmes, in dem gerade niemand kommen durfte, weil der Regisseur es so wollte, zerdehnte Zeit, die dann plötzlich riss – er rannte fort, im Ohr noch das Klirren des Glases, schnellerer Atem, beschleunigter Puls. Ein Mann mit einer Aktentasche trat aus einem Hausflur, fast hätte Richard ihn gerammt. Richard lief kreuz und quer durch schmale Seitenstraßen, bis er bemerkte, dass er durch sein Laufen die Aufmerksamkeit der Passanten auf sich zog; beim Donaukanal setzte er sich auf eine Bank. In seiner Hand, wo der Stein gelegen war: Leere, spürbare Abwesenheit, als hätte er ein Gespräch abgebrochen, wäre mitten im Satz geflüchtet.

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