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Ungekürzte Originalfassung eines für die Zeitschrift »Wort auf dem Weg«, Feldkirch, Nr. 268/269, Juli–Oktober 2000, verfassten Beitrags

Sprachwege suchen

In einer Zeit wachsender Wort-Entwertung durch lautstarke Werbeslogans und griffige Leerformeln, in einer Zeit, in der auch die Versprechen angeblich "christdemokratischer" Politiker in erschreckender Geschwindigkeit von ihren Urhebern vergessen werden, tut es gut, wenn sich eine Zeitschrift des Themas Sprache in all ihren Facetten als Jahresschwerpunkt annimmt. Es geht letztlich um nicht mehr oder weniger als um das, was den Menschen zum Menschen macht. Die Sprache ist nicht sein – mit jedem Trend zu wechselndes – Kleid, sie ist sein Wesen. Wer die Sprache verzweckt, ihres Eigenwerts beraubt, raubt ihr und sich selber etwas Wesentliches.

Nimmt man die Sprache ernst, und das sollte bei jedem literarischen Text so sein, braucht es Zeit, Behutsamkeit, ist Hinhorchen, Abwägen, Abklopfen der einzelnen Bedeutungen, Rhythmen, Klänge erforderlich. Besonders deutlich wird das beim Gedichteschreiben. Hier kann ein einzelnes "falsches" Wort, das die Atmosphäre stört, die Stimmung eines ganzen Texts beeinträchtigen. Als Autor spürt man, etwas ist nicht stimmig, und geht auf die Suche, die manchmal auch bei einem kurzen Gedicht sehr lange dauern kann. Bis zur Fertigstellung eines Lyrikbandes vergehen bei mir im Schnitt vier Jahre.

Beim Überarbeiten von Gedichten

Die langen Wege
von Wort
zu Wort

Harte Arbeit
Silbensuche

Oft erst
nach vielen Umwegen
bemerkt:

das gesuchte Ziel
lag gleich
nebenan

Das Bild des Wegs ist für mich sehr sprechend: Wege sind schmäler als asphaltierte Straßen, individueller, vorläufiger. Wege können verwachsen, neu angelegt werden. Wege haben mit Suchen zu tun, Straßen mit Ankommen. Lebens-Wege, Sprach-Wege: nicht selten sind sie mit Umwegen verbunden. Aber gerade durch solche nicht geplanten Umwege kommt man manchmal an besondere (W)Orte. Ist man dorthin gelangt, hat man das Gefühl von Ganzheit, Stimmigkeit. Etwas "rastet ein", das über das rein Sprachliche hinausgeht.

Suchen

ein Gleichgewicht in der Stille
eine Schaukel im Sturm

Farbe im farblosen Stroh
die Sonne im Birkenblatt

eine neue Haut im Wasser
einen Code für die Signale der Fische

Formen im Steinbruch der Städte
bewegte Skulpturen: Passanten

einen Blick der frisch bleibt
und alles verbindet

Gedichte machen es möglich, Erfahrungen zu benennen, zu vertiefen und zu überdenken – sie aufzuheben, zu bewahren, für sich selbst, aber auch für andere. Die Formen können dabei so unterschiedlich sein wie die Vielfalt der Erfahrungen selbst. Auch das "sinnfreie" Spiel mit der Sprache, mit Worten, Silben und Klängen, gehört dazu, es ist ein wichtiges Element in der Lyrik für Kinder. "Gedichte", so der amerikanische Lyriker Robert Creeley, "sind sehr spezifische Arten des Tanzens." Schon kleine Kinder gehen auf die "tänzerischen Bewegungen" des Gedichts (Rhythmus, Reim, Wiederholung) ein, auch wenn sie noch gar nicht alle einzelnen Worte verstehen. Das Gedicht eröffnet einen Freiraum, eine Dimension, die über das reine Inhalte-Vermitteln hinausgeht und an den kreativen Kern jedes Menschen rührt.

Bei Gedichten für Erwachsene könnte man es so sagen: Lyrik ist eine Sprech-und-Schweige-Sprache. Das Ausgesparte ist oft genauso wichtig wie das Ausgesprochene, Angedeutete; Phantasie und Genauigkeit spielen zusammen. Diese Spannung verleiht dem Gedicht seine Vielschichtigkeit – und sie verlangt einfühlsame, kreative Leserinnen und Leser, die zu hören verstehen, zu deuten. Die ihre eigenen Erfahrungen, Gefühle, Vorlieben, Wünsche, Träume, Utopien einbringen in die Leerstellen des Gedichts. So entsteht eine Partnerschaft zwischen Autor/in und Leser/in, die meist wohl tiefer geht als bei der Lektüre einer Erzählung oder eines Romans, obwohl es natürlich auch dort nötig ist, die eigene Vorstellungskraft beim Lesen mit einzubringen. Aber beim Gedichtelesen wird das Gedicht auf eigentümliche Weise immer wieder neu hervorgebracht – von jeder Leserin, jedem Leser, und bei jeder Lektüre etwas anders.

Wer diese Leer-Räume in einem Gedicht nicht bemerkt – und die fast unmerklichen Schwingungen, die mit ihnen verbunden sind –, wer Lyrik wie ein Sachbuch nur "auf Inhalt" liest, wird leicht enttäuscht sein, ihm wird vermutlich mancher Text flach und banal erscheinen. Wer das Schweige-Element in einem Gedicht nicht erspürt – in unserer Zeit der sprachlichen Dauerberieselung etwas Widerständiges, aber auch schwer Fassbares –, wird sich über manche Zeile wundern oder sie als platt ablehnen. Doch ohne Innehalten geht es beim Gedichteschreiben und -lesen nicht. Und zeigt sich hier nicht auch eine Verwandtschaft der Lyrik zur Meditation, zum Gebet?

Reiner Kunze hat Stille einmal als "die erde fürs gedicht" bezeichnet: Aus ihr kann etwas wachsen, langsam. Manchmal wächst es allerdings auch schnell, spontan. Manchmal hat man Glück und "ein Gedicht passiert" (Friedl Hofbauer). Besonders im Kinderlyrikbereich habe ich diese Erfahrung schon öfter gemacht. Mein erstes Kindergedicht überhaupt – 1977 entstanden – ist so ein Spontantext, der auch nachträglich nicht mehr bearbeitet wurde:

Mitten im Karottenfeld

Mitten im Karottenfeld
kam ein Hasenkind zur Welt.

Als es die Karotten sah,
meinte es: "Ich bleib gleich da!"

Andere Gedichte werden bis zu zehnmal überarbeitet, bis ich zufrieden bin und die endgültige Fassung feststeht; in dieser Arbeitsphase helfen mir kritische Stimmen "von außen" sehr, um Distanz zum eigenen Text zu gewinnen. Meine Frau ist immer meine erste Lektorin, aber auch Kolleginnen wie Friedl Hofbauer und Käthe Recheis lesen meine Texte "mit dem Bleistift", machen Vorschläge, Anmerkungen, über die ich dann nachdenken und die ich in die Sprachsuche einbringen kann.

Zum Gedichteschreiben brauche ich immer einen konkreten Impuls – das kann eine Beobachtung sein, ein aufgeschnapptes Gespräch, ein Reim, der mir plötzlich einfällt. Es kann beim Wandern geschehen, beim Zugfahren, beim Spielen mit meinen Kindern. Anders als bei der Prosa entstehen die wenigsten Erstfassungen am Schreibtisch. Dort wird dann allerdings gefeilt und bearbeitet, bis ich den Eindruck habe, jetzt "stimmt" alles. Dieses "Stimmen" ist ein Eindruck, der Kopf und Gefühl umfasst.

Kopf und Gefühl: Wesen der Sprache, Wesen des Menschen. Womit der Weg zurückführt zum Beginn meiner Ausführungen. Und auch das abschließende Gedicht schlägt einen Bogen zum Ausgangspunkt:

Vom Sprechen

1
Inmitten schreiender Reklame
nur zeitweise
aufgehoben
im Wort

2
Zu viele Worte gehört
Von Wortschwällen
weggeschwemmt

3
Den Worten ihre Stille entlocken
("im Säuseln
nicht im Sturm")

4
Schweigen
um nicht
zu verstummen

Quellenhinweis

»Beim Überarbeiten von Gedichten« / »Mitten im Karottenfeld« / »Vom Sprechen«:
© Georg Bydlinski
»Suchen«:
»Zimmer aus Licht. Ausgewählte Gedichte«, Edition Atelier, Wien 1999

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