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Bydlinskis Rede anlässlich der Verleihung des Österreichischen Kinder- und Jugendbuchpreises in Gleisdorf am 21. April 2005

Ein Preis ist ein Märchen ist eine Rose

1. Titelsuche

Wie nenne ich das Ganze? Eine Rede braucht schließlich eine Überschrift. »Ein Preis ist ein Märchen ist eine Rose«? Oder »Flaschenpost für Selma Khnopf«? Oder »Die Häuser des Zapperdockel«? – Sie sehen, die Jury hat sogar darauf geachtet, dass die heuer ausgezeichneten Titel rhythmisch kompatibel sind. Aber ich glaube, ich bleibe doch bei meiner ersten Idee: »Ein Preis ist ein Märchen ist eine Rose«. Übrigens hat dieser Titel auch Marjaleena Lembcke gefallen, die heute leider nicht da sein kann. Es gibt also keinerlei Copyrightprobleme – höchstens mit den Erben von Gertrude Stein, aber die wissen nichts davon.

2. Exkurs (lyrischer Einschub mit Kommentar)

Wörter sammeln

Jedes Wort hat eine Farbe,
jedes Wort hat einen Klang.
Manche Worte sind kurz,
andere lang:

Eishöhlengeister,
Schneckenhausmeister,
Wolkenrandzupfer,
Löwenzahntupfer,
Birkenweißmaler,
Maisonnenstrahler …

Jedes Wort hat eine Botschaft,
manchmal singt es, manchmal knurrt’s.
Manche Worte sind lang,
andere kurz:

Reis,
heiß!
Miau,
au!
Gebell,
schnell …

Manche Worte sind gesprochen,
andre Worte nur gedacht.
Gib auf alle Sorten
von Worten
– die langen und die kurzen,
die lauten und die leisen –
beim Wörtersammeln Acht!

Die Jury hat dankenswerterweise auch auf die leisen Worte Acht gegeben, auf jene Stimmen, die in unserer lauten, vielfach uniformierten Zeit leicht untergehen. Ich möchte dabei den Beitrag der Illustratorinnen und Illustratoren nicht ausklammern, sondern ausdrücklich mit einschließen. Auch hier gibt es leise, sensible Stimmen. Und die Wirkung eines Buches für Kinder ist ja wesentlich vom Zusammenspiel des Wortes mit dem Bild geprägt. Drum:

Mit dem Malkasten

Ich nehme einen Pinsel
und zeichne eine Insel.
Ich nehme einen zweiten Pinsel
und zeichne eine zweite Insel.

Eine Insel ist grün,
die andere rot.
Jetzt werde ich ein paar Farben mischen –
ich mal‘ eine bunte Brücke dazwischen!

3. Anlass und Kontext

Als gebürtiger Grazer freue ich mich besonders, den Österreichischen Kinder- und Jugendbuchpreis hier in Gleisdorf entgegennehmen zu dürfen – noch dazu, wo Helga Plautz, die hiesige Buchhändlerin, sich von meinem ersten Buch an für meine Arbeiten eingesetzt hat. Das war 1980 – vor 25 Jahren –, lange vor jeder literarischen Auszeichnung. Aber im Märchen (»Ein Preis ist ein Märchen ist eine Rose«) vergeht die Zeit ohnehin anders als in der realen Wirklichkeit, das wissen wir alle, die jemals Märchen gelesen haben oder denen Märchen vorgelesen wurden.

Ich bin heute nicht der Einzige, der mit dem Österreichischen Kinder- und Jugendbuchpreis ausgezeichnet wird. Deshalb habe ich meine Kolleginnen und Kollegen gebeten, mir einige Sätze zu schicken: was eine solche Auszeichnung für sie bedeutet, ja überhaupt, was ihre Grundintentionen beim Schreiben und Zeichnen/Malen/Illustrieren sind. Am besten, ich gehe Buch für Buch vor.

4. Ein Märchen ist ein Märchen ist ein Märchen

Zitat Marjaleena Lembcke (E-Mail vom 7. April 2005): "Zu dem Märchen steht ja einiges in der Begründung der Jury. Was vielleicht interessant ist: Pirandello hat mich nicht zu der Geschichte animiert, sondern die Kinder. Oft fragen sie bei den Lesungen: Wo kommen die Ideen her und ist es schwierig eine Geschichte auch zu Ende zu schreiben und was passiert, wenn einem nichts mehr einfällt? Und das Buch ist eine Art Antwort auf die Kinderfragen. Und sonst – ich schreibe, weil ich Geschichten im Kopf habe, ich schreibe über Menschen, die diese Welt bereits verlassen haben, ich gebe ihnen mit meinen Worten ein anderes Leben, meine Erzählungen sind oft Porträts, Momentaufnahmen, Liebeserklärungen. Erinnerungen an einen Ton, an eine Stimme, ein Versuch aus vielen Stimmen einen Chor zu bilden und sie zum Singen zu verführen. Mehr gibt es dazu nicht zu sagen."

Soweit die Autorin. In ihrem Buch findet sich auf Seite 84 der schöne, bedenkenswerte Satz, den der König ausspricht: "Das Leben ist sehr kompliziert, wenn man sich außerhalb des Märchens befindet …" Daran anknüpfend möchte ich allgemein sagen: Es ist eine der Funktionen von Literatur überhaupt, die oft unüberschaubare Komplexität des Lebens zu reduzieren auf die überschaubare Komplexität einer Geschichte. So wird Literatur auch "Lebenshilfe", aber nicht in jenem plumpen Sinn, der von Büchern konkrete Handlungsanweisungen für den Alltag erwartet.

5. Die Häuser der Selma Khnopf

Zitat Karla Schneider (Brief vom 22. März 2005): "Zum bepreisten Bilderbuchtext: Was im Faltblatt zum Preis steht, ist eigentlich das Profundeste, was ich bisher an Rezensionen über meinen Text gelesen habe. Besser könnte ich es auch nicht sagen. Es ist tröstlich, zu lesen, dass endlich mal jemand einen richtig gelesen hat und sich nicht bloß am Text der Verlagsvorschau bediente." Also wieder ein großes Lob an die Jury. "Was ein Preis für mich bedeutet: Schreiben ist der einsamste Beruf der Welt. Keiner verunsichert einen mehr als dieser. Jedes abträgliche Wort vermag einen zu deprimieren, ja tief unglücklich zu machen. Andererseits kann ein Lob – ein Lob von den richtigen Leuten wohlgemerkt – einen für mehrere Tage geradezu schwerelos machen vor Glück. Einen Preis zu erhalten gehört dazu. Und nicht zuletzt setzt er mich in den Stand, einen großen Teil meiner Verbindlichkeiten abzuzahlen."

Dies solle ich "vielleicht lieber nicht erwähnen", schreibt Karla Schneider weiter. Aber ich finde, es ist ein sehr wichtiger Aspekt. Wir AutorInnen und IllustratorInnen sind ja (fast) alle keine reichen oder wohlhabenden Leute. Mir persönlich hat das Preisgeld geholfen, meine Quartalsvorschreibung der Sozialversicherung bezahlen zu können, ohne Reserven anzutasten. Und auch Marjaleena Lembcke hat Ähnliches angedeutet. Das nur als Realitätsbezug freischaffenden künstlerischen Lebens und Arbeitens, das immer auch mit einem gewissen Risiko verbunden ist. An dieser Stelle möchte ich meiner Frau Birgit herzlich danken, die dieses Risiko seit so vielen Jahren mitträgt und die mir darüber hinaus zahlreiche wertvolle Anregungen im Zusammenhang mit meinen Texten und Büchern gegeben hat.

Zurück zu Karla Schneider und ihren Schreibintentionen: "Für mich gilt: nur das Beste. Auch und gerade für lesende Kinder. Ich schraube meine Ansprüche in Sachen Sprache da keinesfalls herunter. Ich verdichte so lange, bis die Stimmung, die Atmosphäre, die Charaktere für jeden sensiblen Leser, gleich welchen Alters, zu fühlen, zu sehen und zu erleben sind."

Ich denke, da spricht Karla Schneider für uns alle, die für Kinder und Jugendliche zu schreiben und zu malen versuchen. Auch das Buch »Die Häuser der Selma Khnopf« bezieht seinen Reiz aus dem Zusammenklang der sprachlichen und der bildnerischen Saiten (mit ai geschrieben). Stefanie Harjes, die Illustratorin des Bandes, teilte mir dazu Folgendes mit (Fax vom 11. April 2005): "Grundsätzlich ist es mir wichtig, mit meinen Illustrationen über den Inhalt des Textes hinauszugehen, d. h. im Bild zu erzählen, was der Text nicht sagt. Ich möchte mit meinen Illustrationen Stellung nehmen, d. h. den Text nicht nur wiedergeben, sondern auch auf meine Weise interpretieren. Nicht nur der Autor, auch ich will erzählen!"

Stefanie Harjes weiter: "Beim Illustrieren habe ich einen hohen künstlerischen Anspruch. Dies gilt sowohl in der Illustration 'für Erwachsene' als auch in der 'für Kinder'. Ich behandle diese Adressaten gleichwertig, denn sowohl Kindern als auch Erwachsenen ist die Lust am Betrachten, am Entdecken, am Interpretieren und Fabulieren gemein. – Der Preis hat mich darin bestätigt, dass sich Qualität auf die Dauer doch durchsetzt. Dass es sich eben doch lohnt, mit Beharrlichkeit seinen hoch gesteckten Zielen zu folgen anstatt resigniert billiges Massenfutter zu produzieren."

6. Exkurs (lyrischer Einschub mit Kurzkommentar)

Die Flaschenpost

Ich schreib auf einen Zettel
das Wort Gnadizadu
und steck’s in eine Flasche
und mach den Korken zu.

Dann werf ich meine Flaschenpost
ganz heimlich in den Bach.
Sie schwimmt davon, von West nach Ost,
ich schau ihr lange nach.

Am Abend bin ich aufgeregt
und kann nicht ruhig liegen.
Ob wer die Post gefunden hat?
Und – werd ich Antwort kriegen?

Literatur, auch Kinderliteratur, ist ja überhaupt eine Art Flaschenpost – wir wissen nie, wen sie erreicht! Eine Auszeichnung, ein Preis zeigt, dass sie jemanden erreicht hat – und eine solche Anerkennung bestärkt uns natürlich darin weiterzumachen.

Sie ahnen nach diesem Exkurs vermutlich schon, welches Buch als nächstes drankommt.

7. Flaschenpost für Papa

Zitat Hubert Schirneck (E-Mail-Attachment vom 10. April 2005): "Ich habe ziemlich spät begonnen, 'Kinderbücher' zu schreiben. Vermutlich war ich der Ansicht, man müsse dafür eine gewisse literarische Reife erreicht haben. Wer für Kinder schreibt, hat meines Erachtens das beste Publikum, und das nicht nur, weil Kinder sehr aufmerksame Zuhörer und Leser sind. Ich halte es mit dem Bilderbuchkünstler Leo Lionni: 'Tatsächlich glaube ich, dass ein gutes Kinderbuch alle Menschen ansprechen sollte, die das ursprüngliche Beglücktsein und Staunen über das Leben noch nicht ganz verloren haben. Es ist so, dass ich in Wahrheit überhaupt keine Bücher für Kinder mache. Ich mache Bücher für den Teil in uns, der sich nicht geändert hat, der noch kindlich ist.'" Und Schirneck weiter: "Ein Autor, zumal von Kinderbüchern, ist privilegiert: Endlich vermag er, wozu ihm als wirkliches Kind meist die Mittel fehlten: sich gegen Übermächte zu behaupten, die sich scheinbar durch ihre bloße Existenz legitimierten. Durch das Schreiben kann er jahrzehntelang verborgene Träume wieder aufleben lassen und Welten erschaffen, die auf ihre Art durchaus real sind. Diese Welten bleiben ihm im normalen, im offensichtlichen Leben verwehrt, entstehen aber aus diesem."

Und zur Auszeichnung mit dem Österreichischen Kinder- und Jugendbuchpreis meint der Autor: "Kinderbuchpreise wie dieser sind meines Erachtens sehr wichtig, weil sie die Aufmerksamkeit auf gute Bücher lenken können. Leider findet die Rezeption von Kinderliteratur in den Massenmedien in viel zu geringem Maße statt." Ja, auch hierin spricht Hubert Schirneck, glaube ich sagen zu dürfen, für uns alle, die sich schreibend, zeichnend, vermittelnd mit Kinderbüchern beschäftigen. Und natürlich gibt es – ich denke etwa an den »Kinder-Kurier« – in dieser kinderliterarischen Mangellandschaft auch einige wenige Ausnahmen.

Melanie Kemmler, die Illustratorin von »Flaschenpost für Papa«, hat mir ebenfalls einige Sätze geschickt (E-Mail-Attachment vom 8. April 2005): "Ich habe versucht, den für mich sehr 'passenden' Text zu analysieren und das Subtile zwischen den Zeilen zu erfassen, um mich in die Gefühls- und Gedankenwelt der Protagonistin Hanna hineinversetzen zu können – in ihre quirligen Alltagserlebnisse, aber auch in ihre Sehnsucht und Verlustgefühle. Ich habe meine Bildideen auf das Wesentliche beschränkt, um den Ton der Briefe aufzunehmen – die Phantasie des Lesers anzuregen und genügend Raum für eigene Vorstellungen zu lassen. Als das Konzept stand, entwickelten sich in meinem Kopf zwangsläufig die Kompositionen, Farbklänge und Atmosphäre. Es begann der Prozess, dies auf das Papier zu bringen … In meinen Bildern möchte ich erzählen, den Text weitererzählen, die Wahrnehmung für den Alltag anregen. Eine Figur entwickeln – auch über ihren Raum, das Interieur. Ich möchte spannende Bilder schaffen und Raum lassen für eigene Gedanken und Gefühle, Platz zum Nachdenken."

8. Der Zapperdockel und der Wock

Rüdiger Wischenbart hat mir im Vorfeld der Preisverleihung die Frage gestellt, wie bei mir – am Beispiel des »Zapperdockel«-Buches – das Geschichtenerfinden vor sich geht. Ich darf aus meiner eigenen E-Mail-Antwort vom 12. April 2005 zitieren: "Bei mir ist es oft so, dass ich – bewusst und/oder unbewusst – über ein bestimmtes Thema nachdenke; das Thema Streit/Versöhnung/Zusammenleben von sehr unterschiedlichen Personen ist so ein Dauerthema, das ich von meinem ersten Kinderbuch im Jahr 1980 an immer wieder aufgegriffen habe, auch später etwa im Bilderbuch »Der himbeerrote Drache« (J&V 1988) oder in meiner phantastischen Erzählung »Sieben auf der Suche« (Dachs 2003). Dann brauche ich aber immer auch noch einen konkreten Impuls zum Anfangen. Beim »Zapperdockel und dem Wock« war es das Spiel mit den Namen, ihren rhythmischen, klanglichen und emotionalen Assoziationen. Mir war klar, dass ein Zapperdockel eher ein kleines, unruhiges, unsicheres Wesen ist und der Wock ein Großer, Dicker, Fester. Das ist übrigens auch den meisten Kindern klar, wenn ich vor dem Vorlesen der Geschichte mit ihnen über die Namen der beiden Protagonisten rede. – Und aus der Spannung zwischen den beiden ist dann im Spiel mit der Sprache die Geschichte entstanden, wobei ich mir meine Hauptpersonen optisch nicht genau vorstellen konnte. Sie waren zunächst 'Sprachschöpfungen'; erst Jens Rassmus hat sie – für mich ideal – ins Bild gesetzt."

Und nachdem ich das Buch seit seinem Erscheinen vor über einem Jahr nun schon sehr oft vorgestellt und vorgelesen habe, muss ich jetzt von meinem Illustrator Folgendes erfahren … Zitat Jens Rassmus (E-Mail vom 11. April 2005): "Beim ersten Durchlesen dachte ich, das ist ein Text, den man eigentlich auf keinen Fall illustrieren sollte. Denn wenn man zwei Fantasiefiguren wie den Zapperdockel und den Wock, deren Reiz doch vor allem darin liegt, dass man sie sich vorstellen muss, bildlich darstellt, geschieht das natürlich auf Kosten all der anderen Möglichkeiten, wie ein Zapperdockel, ein Wock oder gar ein Zapperdockelland eventuell aussehen könnten, und macht die Geschichte viel ärmer. – Beim zweiten Durchlesen dachte ich das noch immer, aber bekam auch Lust den Zapperdockel zu illustrieren, denn er bot mir viel Freiheit zu tun und zu lassen, was ich wollte, und das ist natürlich sehr reizvoll. Bilder machen zwar viel kaputt, fügen aber auch viel hinzu. Außerdem gefiel mir die Geschichte. Ich habe versucht, den Text nicht mehr als nötig durch die Bilder einzuengen und die Offenheit und die Möglichkeit freier Assoziationen beizubehalten. – Ein in meinen Augen großer Dank gebührt Conni Hladej vom Dachs-Verlag dafür, dass sie mich hat machen lassen, wie ich wollte. (Und das Gefühl vermittelt hat, dass sie es dann schon gut finden wird, wenn es fertig ist.)"

Damit bin ich bei einem wesentlichen Aspekt angelangt: der Rolle des Verlags. Es ist nicht selbstverständlich, dass der Verlag einen "lässt" – einem die Freiheit lässt, das grundsätzliche Vertrauen schenkt, uns Urheber als Partner (und nicht nur als "Zulieferer") ansieht. Das möchte ich dankbar betonen – und Cornelia Hladej, meiner Lektorin, hiermit die Rose aus meiner Überschrift (»Ein Preis ist ein Märchen ist eine Rose«) überreichen. Ohne engagierte, risikofreudige Verlage wären manche Preisbücher noch unverlegt – oder irgendwo verlegt in einem Archiv für ungedruckte Manuskripte, die niemand liest.

9. Coda

»Ein Preis ist ein Märchen ist eine Rose«. Ein Mosaik ist ein kohärentes Ganzes aus scheinbar disparaten Teilen – wie oftmals Kunst und Literatur überhaupt, wie diese Rede. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit, ich bedanke mich, auch im Namen der Kolleginnen und Kollegen, für den Österreichischen Kinder- und Jugendbuchpreis 2005!

Quellenvermerk

Die zitierten Gedichte »Wörter sammeln«, »Mit dem Malkasten« und »Die Flaschenpost« stammen aus meinen Büchern Ein Gürteltier mit Hosenträgern und Wasserhahn und Wasserhenne (beide Dachs-Verlag, Wien).

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