Laudatio von Manfred Schlüter anlässlich der Verleihung des Friedrich-Bödecker-Preises
am 1. Oktober 2012
Laudatio auf Georg Bydlinski
Ich grüße Sie und Euch.
Und besonders dich, lieber Georg!
Als ich gefragt wurde,
ob ich heute über Georg Bydlinski sprechen würde,
hab ich mich gefreut. Und sogleich gewusst, dass ich sein umfangreiches,
ungemein vielfältiges Werk nicht in Gänze würde würdigen können.
Ich werde einen sehr persönlichen Blick auf ihn und seine Arbeit werfen.
Und mich erinnern dann und wann … an die eine oder andere Begegnung …
Eines seiner Gedichte möchte ich an den Anfang meiner kleinen Reise stellen:
Gedichte
kann man nicht
erzwingen
sie tauchen
plötzlich auf
wie Schnecken
nach dem Regen
(aus "Schneefänger" von Georg Bydlinski, Edition Atelier 2001)
Georg tauchte nicht plötzlich auf. Der, so kommt es mir zumindest vor, war immer schon da. Bereits seit den 1980er Jahren ist er regelmäßiger Gast hier in Hannover.
Ich bin ihm zum ersten Mal vor 12 Jahren begegnet.
Im Rahmen dieses Treffpunktes.
Allerdings nahm ich ihn nur aus der Ferne wahr.
Ein kraftvoll-musikalisches Programm war soeben zu Ende gegangen.
Die lauten Töne hingen noch im Raum.
Dann trat er nach vorn und las einige seiner Gedichte.
Sehr unaufgeregt. Sehr leise. Und seine Worte fanden den Weg. Dennoch.
Fanden den Weg in unsere Ohren, Köpfe, Herzen.
Und eine große Stille war im Raum …
Schön!
Ein wenig näher kam ich ihm 2006. Im Rahmen der Braunschweiger Jugendbuchwoche. Wir tauschten unsere Bücher. "Schneefänger" gegen "Reime-Eimer". In seinen "Schneefänger" schrieb er mir mit kleinen blauen Buchstaben eines der darin enthaltenen Gedichte:
Das ist mein Dreiklang:
Wort
Musik
Stille
(aus "Schneefänger" von Georg Bydlinski, Edition Atelier 2001)
Diese wenigen Worte, so glaube ich, beschreiben ihn sehr treffend, den Schriftsteller und Musiker, den Menschen Georg Bydlinski.
Ich sehe ihn als Wanderer.
Nicht als einen, der mit schwerem Gepäck unterwegs ist,
schweißgebadet, atemlos, den Blick nur auf das ferne Ziel gerichtet.
Eher als Spaziergänger, der auch die Umwege schätzt,
der mit offenem Blick unterwegs ist und immer wieder innehält,
um zu sehen, hören, riechen, fühlen,
um zu denken und zu träumen.
Und dennoch ankommt. Und sein Ziel erreicht.
Mir scheint: Er sucht es nicht, sein Ziel.
Er findet es … irgendwo … am Rande seines Weges …
"Einen Passanten im strengsten Sinne des Wortes, einen Vorübergehenden." So nennt ihn Christian Teissl.[1]
Und Georg sagt über sich und sein Schreiben: "Meine Texte entstehen meistens draußen, spontan, bei Spaziergängen. Beim Gehen beginnen die Melodien in meinem Kopf zu klingen."[2]
Folgendes Gedicht aus seinem "Schneefänger" mag dazu passen:
Die Rinde
Mit der Hand
über die Baumrinde
streichen
Die Sprache der Bäume lernen
um in ihr
zu schweigen
(aus "Schneefänger" von Georg Bydlinski, Edition Atelier 2001)
Ich weiß nicht, ob Georg die Sprache der Bäume gelernt hat.
Ich traue es ihm zu …
Und finde es schön, dass er nicht schweigt.
Sondern spricht. Und schreibt. Von der Sprache. Und vom Schweigen.
Denn erst im Schweigen hören wir, was uns die Bäume erzählen.
Spüren, was die Welt uns zu sagen vermag.
Georg ist einer, der zu hören in der Lage ist. Und zu sehen. Der seine Aufmerksamkeit immer wieder den vielen kleinen Dingen schenkt, aus denen unsere große Welt sich zusammen setzt. In seinen Texten für Erwachsene. Und in denen für Kinder.
In "Wasserhahn und Wasserhenne" etwa schreibt er:
Was ich sehe, wenn ich gehe
Auf dem Acker frisch gepflügte Erde.
Am Himmel Wolkenpferde.
Zitternde Gräserspitzen.
Blüten in Mauerritzen.
Zwei Schmetterlinge, gelb und weiß.
Ein Kind mit einem Eis.
Eine alte Frau mit einem Buch.
Auf einer Wäscheleine ein einzelnes Taschentuch …
(aus "Wasserhahn und Wasserhenne" von Georg Bydlinski, Dachs Verlag 2002)
Da schaut einer …
schaut zu … schaut hin …
"und reimt und schreibt,
damit von all dem etwas bleibt".[3]
Von dem Alltäglichen, dem Unspektakulären.
Auf das Unscheinbare lenkt er seinen Blick. Und zieht unseren mit.
Zeigt uns Gräserspitzen, Mauerritzen …
und schenkt ihnen – und uns – seine Sprache.
"Mir scheint ja überhaupt, dass Georg Bydlinskis Gedichte
vor allem von der Melodie der Sprache leben
und das Eigenleben der Dinge feiern." So schreibt Renate Welsh.
Und weiter: "Sie sind getragen von der Sehnsucht nach einer Welt,
in der die Beziehungen zwischen Menschen und die Beziehungen zur Natur behutsam und liebevoll sein können."[4]
Und Christian Teissl spricht von seiner "unverwechselbaren Sprache, die nicht aus dem Labor kommt, sondern aus dem Leben."[5]
Das Leben!
Das der Menschen, Tiere, Pflanzen …
Diesem Leben, allem Lebendigen begegnet Georg
mit großer Zuneigung, mit einer gewissen Ehrfurcht.
Die spiegelt sich in seinen Texten.
In denen immer wieder auch Musik zu Hause ist.
Wie in seinem Leben.
Das ist sein Dreiklang:
Wort
Musik
Stille
(aus "Schneefänger" von Georg Bydlinski, Edition Atelier 2001, [6])
Ich würde jetzt gern schweigen. Und die Sprache der Bäume lernen. Oder dem wunderbaren Geräusch der Stille lauschen.
Aber da ist noch so vieles, über das zu sprechen wäre:
Seine "anderen" Reime, die heiter verspielten, übersprudelnd fröhlichen.
Seine Kinderlieder. Die Bilderbücher, Erzählungen und Romane.
Seine Übertragungen indianischer Texte aus Nordamerika
(gemeinsam mit Käthe Reicheis).
Sein unermüdlicher Einsatz als Lese-Reisender.
Sein Engagement im Vorstand der IG Autorinnen und Autoren.
Sein langjähriger Einsatz als Mannschaftskapitän
der Österreichischen Autoren-Fußballnationalmannschaft.
Seine Erfahrungen als Mitbegründer und Verleger der Edition Umbruch.
Und nicht zuletzt die gemeinsamen Arbeiten mit seiner Frau Birgit.
Ich möchte es bei dieser unvollständigen Aufzählung belassen.
Und eines seiner Gedichte an den Schluss meiner kleinen Reise stellen.
Schneefänger
einem Buchkritiker gewidmet
Eine Schneeflocke
fängst du am offenen Fenster
legst sie drinnen
auf eine Unterlage
betrachtest sie
lange
und ausdauernd
mit deinem Mikroskop
Nur Wasser!
befindest du enttäuscht
und wendest dich ab
von neuem das Fenster
zu öffnen
(aus "Schneefänger" von Georg Bydlinski, Edition Atelier 2001)
Ich möchte Georg danken.
Dafür, dass er sich – und uns –
immer wieder Fenster öffnet.
Und unseren Blick sehr behutsam
auf die unscheinbaren Dinge lenkt.
Auf das Leise im Lauten, die Stille im Lärm.
Das Kleine im Großen. Das Andere im Einheitsbrei.
Danken dafür, dass er nicht die Flocke fängt,
sondern sie betrachtet, mit ehrlichem Interesse,
und Worte für sie sucht.
Und findet.
Lieber Georg, ich gratuliere dir sehr herzlich!
[1] + [5] aus der "Rede auf Georg Bydlinski" von Christian Teissl, gehalten anlässlich der Jubiläumsveranstaltung "Jahrzehnteschnell / 30 Jahre - 70 Bücher" am 30. September 2010 in Maria Enzersdorf – Südstadt
[2] aus einem Artikel von Christina Repolust in "Unsere Kinder", Fachzeitschrift für Kindergarten- und Kleinkindpädagogik, Linz, Nr. 5/2008
[3] aus "Reime-Eimer" von Manfred Schlüter, Boje Verlag 2006
[4] aus der Rede von Renate Welsh anlässlich der Verleihung des Österreichischen Staatspreises für Kinderlyrik an Georg Bydlinski am 10. Dezember 2001 im RadioKulturhaus, Wien
[6] leicht verändert von Manfred Schlüter